eutschland bietet für den regulären Urbexer recht wenig, vorallem wenn er vom Nachbarstaat Belgien verwöhnt wurde: Hin und wieder eine Fabrik, die fast bis auf die Grundmauern gerockt, zugekotet und besprüht wurde – dann noch Ostdeutschland, mit den ewig gleichen, leeren Industrieanlagen aus realsozialistischer Zeit und das Ruhrgebiet, wo Lagen um Lagen von Natodraht neugierige Besucher von Ruinen fernhalten sollen, die im Grunde keiner so wirklich richtig beschützen will. Vielleicht wäre es manchmal auch nur zu unangenehm, wenn jeder wüsste was so in den Boden läuft – genau dort, wo später einmal schicke Wohlstandsghettos entstehen könnten.
Doch Ausnahmen bestätigen dann doch schon einmal die Regel, wie auch in diesem, mehr als glücklichen, Fall von Location; Keine Schmierereien, feinster, naturbelassener Verfall und glutenfreier Schimmel, so weit das Auge reichen kann (5 Dioptrin machen daraus dann auch höchstens nur 3-4m).
Aachen, 06:00 Uhr – es regnet, was für Aachen mehr als nur typisch ist, ja gerade zu “Charaktergebend” wirkt auf diese Stadt; der Aachener ist für gewöhnlicher eher ein mürrischer (wohlwollend formuliert), auch ein eher zurückhaltender Typ, der so gar nichts mit dem so oft gepriesenen Kölner zu tun hat. Ein Aachener schaut, schweigt, gibt in unregelmäßigen Abständen (und ohne Anlass) ein “Au Hur!” von sich und betrachtet ansonsten jeden Tag bereits, noch vor dem Aufstehen, als überflüssig und an sich schon gelaufen. Der gemeine Kölner ist dagegen, im direkten Vergleich, ein Quell unerschütterlicher Freude und Glückseligkeit, der nie zu versiegen droht.
Der Regen ist kalt, dafür unermüdlich und prasselt mir auf die Stirn, lässt meine M65 Feldjacke aufquellen (die ich mal wieder vergessen habe zu imprägnieren) und meine Müdigkeit noch schwerer werden. Lässt mich mein Aufstehen, zu dieser Uhrzeit, noch mehr bereuen. Die Dämmerung, die nun schleichend den Parkplatz ergreift, auf welchem ich so motiviert stehe, lässt die Konturen der charakteristischen Türme vor meinen Augen erscheinen, die zu einem der größten Kliniken Europas gehören, welches langsam seine architektonische Strahlkraft präsentiert.
Eine Heerschar von Krähen und Raben führt, wie an einem jeden Morgen, ihren Tanz dort auf – so als würden sie die Kollegen vom Frühdienst begrüßen wollen, mit ihrer unermüdlichen Showeinlage.
In manchen Kulturen gelten die schwarzen Vögel als Glücksboten, als weise Wesen mit göttlicher Verbindung – hier muss man dagegen aufpassen, nicht unfreiwillig vor dem Dienstantritt von ihnen “gesegnet” zu werden. Hier kann man diesen Tieren aber auch dabei zusehen wie sie die Mülleimer plündern und nach einer Mahlzeit suchen – und man kann sich dabei, wenn man etwas Zeit hat, an ihrer Schläue ergötzen, die sie so spielerisch einsetzen und präsentieren.
Die wahrscheinlich bereits vierte verbrauchte Zigarette fällt aus meinen Fingern in die Gosse, in den kleinen Rinnsal zu meinen Füßen, der sich durch den stetigen Regen gebildet hat. WhatsApp sagt mir “noch 10 Minuten” und ich grabbele nach dem nächsten Krebslolli, der sich in meiner Brusttasche versteckt hält. Es gibt so viele Dinge die so fürchterlich ungesund sind, aber so angenehm süchtig machen.
Eine deutsche Großstadt, 10:00 Uhr (oder doch 14 Uhr?) – Wir sind frisch angekommen, nach einer schier endlos wirkenden Fahrt auf deutschen Autobahnen. Wie Menschen so weite Strecke, so problemlos, mit ihrem Auto zurücklegen können, war mir schon immer ein Rätsel; mir kommt schon nach 100-200 km am Stück die Galle hoch, wie auch in diesem Moment.
Der Treffpunkt liegt in einem Industriegebiet, oder besser gesagt “ehemaligen” Industriegebiet. Nur Ratten, ein paar Verlorene und die Reste von dubios ausgeschlachteten Autos sind hier vorzufinden, wie auch riesige Monumente einer besseren, industriellen Phase dieses Ortes. Der allgemeine Zustand meines Autos lässt mich auch hier angstfrei parken, ist es doch noch dreckiger als manche vierrädrige Ruine, an welcher ich vorbeischlängeln musste. Mir kommt wieder ein Gedanke in den Sinn: Verfall begleitet mich, im Grunde genommen begleitet er jeden von uns – wir verfallen immerhin täglich selber, immer ein Stückchen mehr.
Oh every night, and every day
A little piece of you is falling away
But lift your face, the Western Way
Build your muscles as your body decays.
Wir schleichen uns eine kleine Gasse entlang, so auffällig, unauffällig wie nur eben möglich es in dieser Ecke ist und schauen uns um. Ein Hauptpunkt, bei diesem Wochenendabenteuer, ist nicht unbedingt immer der bereits markierte Punkt auf der Smartphone App, der eine Location anzeigt – nein, es ist der Eingang, der auf einen wartet. Ein Stahltor, welches man über-, unter- oder durchklettern muss, ein Loch in der Wand, ein zerbrochenes Fenster oder auch schon einmal Natodraht, den man mit höchster Vorsicht durchsteigt, weil eine falsche Bewegung echt beschissene Folgen haben könnte. Es ist immer dieser kleine Nervenkitzel, welchen ich als den spannendsten Moment einer Erkundung betrachte – “kommen wir rein?”.
Wir kommen rein, sogar eleganter und langweiliger als gedacht, wie uns ein offenes Rolltor signalisiert. Offene Tore? Urbex? Es passt irgendwie nicht immer zusammen, aber wenn einem so viel “Gutes” widerfährt… Vielleicht wartet ja auch um die Ecke nur der Sicherheitsdienst? Ein Obdachloser, ein Junkie mit übersteigerter Libido und geringen Ansprüchen? Ich hatte mich rasiert an diesem Tage und ich war der schlechteste Läufer von uns allen… Manchmal braucht es ein wenig Leichtsinn und Verlust des Selbsterhaltungstriebes, um ein paar gute Fotos, ein paar gute Eindrücke mitnehmen zu können. Wir stapfen durch das Tor, brav wie die Gänse in einer Reihe…
Lassen wir uns überraschen, mal wieder…